In ›Wie isst man ein Mammut?‹ erzählt Uta Seeburg chronologisch und
anhand von fünfzig Gerichten die Geschichte des Essens – und damit des
Menschen. Hier gibt es einen Vorgeschmack aus der Küche.
»Auch wie so ein Mammut an sich eigentlich schmeckt, bleibt wohl ein ungeklärtes Geheimnis der Menschheitsgeschichte. Ein gewisser New Yorker Herrenclub nimmt jahrzehntelang für sich in Anspruch, im Jahre 1951 ein Stück im arktischen Eis konserviertes Mammutfleisch verspeist zu haben, doch dummerweise ergeben spätere DNA-Analysen, dass bei dem eiszeitlichen Dinner lediglich Suppenschildkröte serviert wurde.«
»An diesem Punkt der Geschichte dreht sich die ganze Existenz des Menschen ums Essen. Die Pflege, Kultivierung, Ernte und Verarbeitung seiner Nahrungsmittel bestimmen seinen gesamten Alltag. Sogar sein Haus ist zuallererst so konstruiert, dass es der Aufbewahrung und Zubereitung des Essens dient. Letztendlich ist es einfach eine bewohnbare Vorratskammer mit Kochstation.«
Um 1730 v. Chr. — Lammeintopf mit Gerstenkuchen, Babylonien
»Irgendwo in diesem ganzen Durcheinander aus Grabbeigaben steht ein kleiner, ovaler Sarkophag. Darin ruht eine Mini-Mumie, länglich und sanft gebogen: Ein paar Rinderrippen, fachmännisch mumifiziert. Dem einst saftigen Fleischstück wurde mithilfe von Salzen jegliche Feuchtigkeit entzogen, bevor man es sorgsam bandagiert hat.«
Um 850 v. Chr. — Mansaf, Syrien
Um 700 v. Chr. — Traubenbrot und gebackene Zwiebeln, Etrurien
Um 30 n. Chr. — Brot und Wein, Römisches Palästina
»Beim ersten Löffel ziehen sich die Innenwände des Mundraums zusammen, Tränen schießen den Männern in die Augen: Typisch für die altrömische Küche ist ein Mix aus sehr würzigen und gegensätzlichen Aromen, die mit der Wucht der Gleichzeitigkeit über die Geschmacksnerven herfallen. Die frischen Blätter der Weinraute schmecken nahezu unerträglich bitter, die Römer lieben das Kraut und würzen fast alles damit. Genauso halten sie es mit dem stechend scharfen Liebstöckel und natürlich dem salzigen garum, der Fischsauce, für die ganze Fische mit Salz vermischt werden und in offenen Krügen in der prallen Sonne über drei Monate fermentieren.«
»Auch hat die Herstellung der Schnitzarbeiten etwas zutiefst Meditatives: Mit einem kleinen Tranchiermesser, das einer spitzen Schreibfeder gleicht, werden feine Furchen ins Fruchtfleisch gezogen, gleichmäßige Rundungen herausgearbeitet, Wellen beschrieben. Und wieder von vorn. Die Wassermelone mit ihrem frischen Rosaton, der sich nach außen hin ins Weiße und dann ins Grüne verliert, eignet sich besonders gut, um die überdimensionierten Lotusblumen zu schnitzen. Es entstehen papierdünne Blüten in einem satten Pink, die Ränder der Blätter leuchten wie in milchig weiße Farbe getaucht.«
»Seine Blütezeit erlebt dieses Gericht der vielstimmigen Gewürze allerdings später in der Ära der muslimischen Moguln, die vom 16. bis ins 19. Jahrhundert in Indien herrschen. […] Mit den kaiserlichen Armeen ziehen Küchenbrigaden durchs Land, um die Befehlshaber zu bekochen. An den mogulischen Höfen werden prunkvolle Feste gefeiert. Man serviert farbenprächtige, duftende Speisen auf goldenen Tabletts. Die Gerichte sind mit hauchdünnen Blättern aus echtem Silber bestreut, so leicht, dass sie durch die warme Luft emporgehoben werden und schimmernd auf die lange Tafel herniederschweben.«
»Bis heute steigen die Zahlen der Betroffenen, die nicht aus politischen Motiven oder Armut hungern, sondern weil eine übersteigerte Sorge um ihr Gewicht sie dazu treibt. Die Tatsache, dass man essen muss, um zu überleben, ist für Betroffene ein ständiger Terror. Essen wird zum Feind, der Körper zum umkämpften Terrain, das an allen Fronten täglich mit schonungslosem Blick kontrolliert wird.«
1566 — Falscher Rehbraten, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation
»Im April legt die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, einen bizarren Auftritt vor laufenden Kameras hin. Sie behauptet, die Ukrainer hätten russische Kochbücher verboten, weil sie den Borschtsch nicht teilen wollen würden. »Darüber reden wir die ganze Zeit. Über die Ausländerfeindlichkeit, den Nazismus, den Extremismus in allen Formen«, lautet ihr erstaunliches Fazit. Essen wird zum Propagandamittel. Folgt man Sacharowas grotesker Logik, so hat Russland die Ukraine mit einem international verurteilten Angriffskrieg überzogen, weil die renitenten Ukrainer auf ihrem Nationalgericht bestehen.«
»Die Sauce ist das schwer definierbare, flüssige Element einer Speise, das sofort ins Geschmackszentrum rollt. Das buttrige Fluidum, das alle anderen Komponenten umspielt. Sie überzieht Oberflächen, fließt heiß und schimmernd in Zwischenräume, überdeckt den Braten, tränkt das Gemüse. Sie ist das Erste, was Kinder vom Teller löffeln, das Letzte, was mit dem Brot aus der Schüssel gewischt wird. […] Sie ist das überflüssigste Element eines Gerichts, das man am meisten will.«
Um 1700 — Tea time, Königreich England
1770 — Pellkartoffel, Königreich Preußen
Um 1790 — Picknick, Frankreich und Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland
»Die Menschheit hat ihr größtes Nahrungsproblem gelöst: Zeit. Sie ist nicht mehr abhängig von den Jahreszeiten und den Produkten, die man in dieser Saison ernten kann, weniger angewiesen auf kurze Lieferwege. […] Das Essen in Dosen beflügelt Eroberer und Entdecker: Nicht nur können jetzt ganze Truppen auf ihren Feldzügen versorgt werden. Der Mensch kann nun, seine Konserven im Gepäck, immer weiter in unbekanntes Terrain vorstoßen.«
Um 1830 — Nigiri sushi, Japan
Um 1860 — Fish and chips, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland
1878 — Hungerstreik, Russisches Zarenreich
Um 1880 — Gerichte namens Bismarck, Deutsches Kaiserreich
1883 — Rumänischer Kaviar und Rinderfilet à la jardinière, zwischen Paris und Konstantinopel
Um 1900 — Pastrami-Sandwich, USA
Um 1900 — Kleiner Schwarzer, Österreichisch-Ungarische Monarchie
1917 — Steckrübenmarmelade, Deutsches Kaiserreich
Um 1920 — Stammessen, Weimarer Republik
Um 1930 — Bauhaus-Schnittchen und Carneplastico, Europa
»Dort, zwischen weißen Kacheln und vom Dampf beschlagenen Sprossenfenstern, rührt eine kräftige Frau in großen Sauteusen und Töpfen. Die Luft ist schwer vom Duft nach Butter und Sahne. Dann wird aufgetragen: poularde en demi-deuil, eine Poularde, unter deren knuspriger Haut, einem schwarzen Trauerflor aus zartem Stoff gleich, dicht gelegte Trüffelscheiben stecken. […] Und natürlich die langouste belle aurore. Eine ganze Languste, die in Cognac und einem Liter Sahne gekocht und in einem vol-au-vent serviert wird, einer zylindrisch geformten Hülle aus Blätterteig, durch die nun raschelnd die ersten Messer fahren. «
Um 1935 — Totenbrot und Zuckerschädel, Mexiko
1937 — BBC-Omelett, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
»In dieser Debatte zwischen Veganern und Carnivoren führen letztere oftmals an, dass der Verzehr von Fleisch tief in der Natur des Menschen verankert sei und haben dabei wohl das Bild des jagenden Eiszeitmenschen vor Augen. Das ist natürlich Unsinn: Die Geschichte des Essens zeigt ja gerade, dass der Mensch sich immer wieder neu anpassen kann.«
»Gleichzeitig gerät die Vernichtung des Essens irgendwann zum Exzess: Der Mensch schmeißt Rüben weg, weil sie krumm gewachsen sind. Er befördert verpackte Lebensmittel auf den Müll, weil er dem aufgedruckten Haltbarkeitsdatum mehr vertraut als seiner Nase. Oder weil – so das Dilemma öffentlicher Küchen mit besonders strikten Hygienevorschriften – er nicht weiß, wer die Verpackung berührt hat. Weil die Lager zu voll sind. Überproduktion den Preis drückt. Ein völlig neuer Schlag Aktivisten erwächst aus diesem Exzess: die Food Saver. Essen ist zu einem Gut geworden, das gerettet werden muss.«
»Dann wird die Speisekarte einer rigorosen Kürzung unterzogen. Ab jetzt gibt es nur noch Speisen, für deren Verzehr man weder Besteck noch Geschirr benötigt. Das Essen kommt stattdessen in Papiertüten, getrunken wird aus Pappbechern. Jahrtausende werkzeuglicher Entwicklung werden hier vom Tisch gefegt, ein großes Plakat überm Eingang verkündet den neuen Stand der Zivilisation: »Kauft es in Tüten!« Übrig bleiben folgerichtig nur noch: Hamburger, Cheeseburger und Fritten.«
Um 1950 — Bánh mì, Vietnam
1955 — Toast Hawaii, Bundesrepublik Deutschland
1958 — Volks-Nudelsuppe, Volksrepublik China
»Zunächst allerdings muss etwas sehr Grundlegendes geklärt werden: Als der Russe Juri Gagarin als erster Mensch überhaupt für eine Stunde in den Weltraum reist, ist man sich durchaus nicht ganz sicher, ob der menschliche Organismus im Zustand der Schwerelosigkeit überhaupt Nahrung aufnehmen kann – oder ob der Kosmonaut nicht einfach ersticken wird. Man kann sich vorstellen, dass Gagarin seinen Proviant, eine Tube püriertes Fleisch sowie eine Tube Schokoladensauce, mit eher gemischten Gefühlen zu sich nimmt.«
»Um überhaupt hineinbeißen zu können, muss man das mehrschichtige Monster kräftig in die Hände nehmen und zusammendrücken, so dass einem die Infusion aus sauerscharfem Fett blitzschnell in den Mund schießt, ein Faustschlag jener Interkulturalität, die Südafrikas kulinarische Bandbreite bestimmt.«
»Es ist sicherlich kein Zufall, dass die molekulare Gastronomie ihre größte Zeit in jenen Jahren erlebt, in denen der Mensch so rücksichtslos und fatalistisch seine Umwelt zerstört wie noch nie. Er hat den Bezug zur Natur völlig verloren. Mit der Pipette in der Hand lacht er der Schöpfung ins Gesicht; deine Oliven hängen vielleicht seit Jahrtausenden an den Bäumen, aber wir können eine Olive machen, die im Mund explodiert, ha!«
1999 — Nackter Lammbraten, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
»Nachdem die Molekularküche das Essen dekonstruiert und ausgehöhlt hat, immer mit dem Ziel, die Natur zu übertreffen, nimmt Redzepis Küche die Gegenposition ein: Sie überhöht das einzelne Produkt, glorifiziert die Lauchstange, erhebt das Gras von der Wiese zum Kult.«
»Seitdem der Mensch die Erde in großem Stil bereist und ausbeutet, hat er auch mit invasiven Arten zu tun. Was soll man dagegen unternehmen? Der erfolgversprechendste Weg, die verschiedenen Ökosysteme vor der totalen Invasion der aggressiven Eindringlinge zu schützen, ist, einen noch größeren Aggressor auf diese zu hetzen. Am besten gleich den gefährlichsten Räuber des gesamten Planeten: den Menschen.«
»Und dann ist der Spuk vorbei. Wir reißen die Türen unserer mittlerweile perfekt gestylten Apartments weit auf und rennen zurück in die Restaurants, in die Arme unserer lange nicht berührten Liebsten. Die Brotbackmaschinen und Santokumesser verstauben in den Regalen. Was wird bleiben aus diesem Ausnahmezustand pandemischer Dinner und Kochexzesse?«