Paris

© Gustave Caillebotte, Jour de pluie, Paris (1877)

Paris, 1896

»Man spürte überall, dass Paris eine neue Stadt war. Nirgendwo stand noch altes Gemäuer, das versunkene Zeiten aufleben ließ, nein, jeder Stein dieser Metropole atmete den Geist des neunzehnten Jahrhunderts, ihrer eigenen Ära. Das war auch kein Wunder, schließlich war es noch nicht allzu lang her, dass ein unerschrockener Stadtplaner namens Haussmann zwanzigtausend Häuser abreißen ließ, um vierzigtausend neue zu bauen. […] Menschen, die nicht viel älter als Gryszinski waren, hatten noch als Kinder in den düsteren, engen Gassen des mittelalterlichen Paris gespielt. Jetzt wandelten sie zwar noch auf derselben Stelle des Erdballs, aber liefen doch staunend durch die riesenhaften Boulevards einer komplett ausgetauschten Stadt.« (S. 125f.)
© Eugène Atget, Läden und Auslagen, Moulin Rouge

Paris, 1896

»Sie kicherte immer noch, als sie später in einer öffentlichen Droschke Platz genommen hatten. An dem Gefährt baumelte eine gelbe Laterne, um anzuzeigen, dass es in Richtung Montmartre fuhr. Die kleine Lampe tanzte über den sandfarbenen Pflastersteinen und taumelte wie ein Irrlicht umher, als sie den Pont de la Concorde überquerten. Unter der Brücke lag die hellerleuchtete Stadt wie ein strahlendes Trugbild auf dem schwarzen Wasser der Seine. Das gelbe Lichtlein zog weiter an der riesenhaften Place de la Concorde vorbei. Stolz paradierte hier eine Armee eiserner Laternenpfähle vor dem mit Hieroglyphen bedeckten Obelisken. Das Lichtlein tat einen mutigen Blick in die gewaltigen Schlünde der Grand Boulevards, in deren Tiefen schlaflose Menschenströme verschwanden.« (S. 152f.)
© Édouard Manet
© Alfred Smith, L'averse, Place de la Concorde (1888)

Paris, 1916

»Er will so schnell wie möglich das Ufer der Seine erreichen und läuft erst die Rue de l’Arcade und dann die Rue Royale hinunter, bis die Place de la Concorde vor ihm auftaucht. Der weite Platz ist menschenleer. In der Dämmerung wirken die Laternenpfähle wie ein Heer ernster Krieger, die eine Totenwache halten. Das Grabmal, der Obelisk mit seinen rätselhaften Inschriften, ist bereits errichtet. Fritz schüttelt die trübsinnigen Gedanken ab. Er läuft wie auf Watte. Dass er hier ist, fühlt sich zutiefst irreal an. Die Fontaine des Mers, ein Springbrunnen, in dem für gewöhnlich das Wasser aus den Mäulern goldener Fische sprudelt, ist trockengelegt. An der steinernen Straßburger Stadtgöttin am östlichen Ende des Platzes flattert ein Banner: Auf ewig französisch!« (S. 158f.)
© Claude Monet, Le Déjeuner sur l'herbe

Paris, 1896

»Ein sonnendurchwirkter Teppich aus grünen Tupfern lag ausgebreitet vor ihnen. Baumkronen entfalteten sich über ihren Köpfen zu hohen Zelten, aus deren Innern weiße Sonnenschirme leuchteten. Die Pariser hatten ihre elegantesten Sonntagskleider angetan und sich in den Bois de Boulogne begeben. Hier vollzog sich das wöchentliche Schauspiel, in dem jeder zugleich Zuschauer und Akteur war. Kleine Grüppchen hatten sich auf den Bänken postiert, die entlang der Wege des riesenhaften Parks aufgestellt waren. Aufrecht sitzende Damen drapierten ihre Röcke zu bauschigen Glocken, die sacht im Wind klangen. Sie hielten anmutig ihre ombrelles, die sich überall wie die übergroßen Pilze eines magischen Walds verteilten. Auf den Wiesen und in den Wäldchen schimmerten helle Picknickdecken, die Inhalte der prall gefüllten Körbe hatte man auf ihnen ausgebreitet […].« (S. 181)
© Édouard Manet, Music in the Tuileries (1862)
Boulevard de Strasbourg

Paris, 1916

»Die verbotenen Nachtwanderungen durch die leeren Straßen von Paris werden zur Sucht. […] Immer selbstverständlicher bewegt sich Fritz durch die Straßen, die als schwarze Korridore vor ihm liegen und oft so dunkel sind, dass er sich an den Häuserfronten entlangtasten muss. Manchmal heulen Sirenen durch die leeren Gebäudeschluchten. Dann folgen die Rufe der Hausbewohner, die in die Kellerräume hasten. Danach das zuckende Licht explodierender Brandbomben, sie fallen aus den Bäuchen der deutschen Zeppeline. Von ihrer Last befreit gleiten die Luftschiffe zurück in die undurchdringlichen Höhen, aus denen sie kamen. Die Wolkendecke schließt sich hinter ihnen wie ein eilig geflickter Riss durch die Wirklichkeit, und es kehrt wieder Stille ein.« (S. 201f.)
© Félix Vallotton, Au marché (1887)

Paris, 1916

»Im Faubourg Saint-Germain taucht ständig der Eiffelturm zwischen den Häusern auf, lugt um die Ecken, reckt seine Spitze über die grauen Dächer, als würde er Fritz beschatten. Jules hat ihm erzählt, dass das französische Militär den Turm in Beschlag genommen hat und von dort oben die verschlüsselten Funksprüche der Deutschen abfängt. Seither kommt ihm der Turm bedrohlich vor, allwissend, argwöhnisch und konspirativ.« (S. 248)